Geduld – zwischen Wunsch und Wirklichkeit
Geduld…die Kunst, zu warten und Bedürfnisse zurückzustecken. Oder die Fähigkeit, eine Zeitspanne zu überbrücken, ohne dabei negative Emotionen zu verspüren.
Wir möchten etwas sofort erledigen oder bekommen, ohne Schmerz erleben, ein Problem schleunigst lösen oder ein Ziel ohne Umwege erreichen. Obwohl wir in einer Zeit leben, in der vieles sofort und per Mausklick zu haben ist, sind wir immer wieder herausgefordert, Geduld aufbringen und uns auf die Zukunft zu vertrösten, im Moment auf die Erfüllung unserer Wünsche und Bedürfnisse zu verzichten. Dies scheint vielen Menschen immer schwerer zu fallen…Haben wir Geduld verlernt?
“Das Gras wächst nicht schneller, wenn man daran zieht.”
Afrikanisches Sprichwort
Geduld zu haben – oder besser, geduldig zu SEIN – bedeutet zu vertrauen, dass die Belohnung, das Ziel, die Bedürfnisbefriedigung, eintreffen wird und dabei weder in Stress, Ärger oder Wut zu verfallen noch Selbstzweifel und Selbstverurteilung zu entwickeln. Geduld befreit von stressigem Zeitdruck, lässt dich emotional ausgeglichener und gesünder sein…sie hilft dir, schwierige Zeiten gelassener zu durchleben sowie beruflich und privat erfolgreicher zu sein. Ausserdem stärkt sie die sozialen Kompetenzen, denn Geduld im Sinne von Toleranz bringen geduldige Menschen häufig auch ihren Mitmenschen entgegen.
Ungeduldige Menschen setzen sich ständig unter Druck, geraten schnell in Stress, Ärger und Konflikte und neigen ausserdem eher zu Suchtverhalten und Konzentrationsschwierigkeiten. Sie haben eine niedrige Frustrationstoleranz und geben oft auf, bevor der Erfolg einsetzt.
Wann wirst du ungeduldig? Welche Gedankenmuster laufen dabei ab? Und was hast du mit deiner Ungeduld bei dir und anderen schon alles angerichtet? Wann fällt es dir leicht, Geduld aufzubringen? Welche Gedanken helfen dir, welcher Fokus unterstützt dich darin?
Das Leben ist nicht schwarz-weiss, es beinhaltet alle Farbnuancen…so sind auch wir Menschen nicht entweder geduldig oder ungeduldig. Sicher gelingt es dir in manchen Situationen oder Bereichen ganz gut, geduldig zu sein, während du vielleicht in anderen Momenten die Meisterschaft in Ungeduld für dich entscheidest. Doch was hilft uns, geduldig zu sein, oder geduldiger zu werden?
Kraftvolle Basis
Was ich grundsätzlich bei mir beobachte…wenn ich gut für mich sorge und darauf achte, mir regelmässig Gutes zu tun, habe ich eine stabile Grundlage für Gelassenheit, Toleranz und Geduld in herausfordernden Alltagssituationen und eine höhere Frustrationstoleranz bei Schwierigkeiten oder Stolpersteinen. Daher meine Herzensempfehlung an dich: finde und integriere für dich stärkende, nährende Alltagsroutinen, fülle regelmässig deine Batterien auf (nicht erst in den Ferien) – mit ausreichend Schlaf, guter Ernährung, Zeit für dich, Bewegung und Sport, in der Natur sein, Entspannung und Meditation, Tätigkeiten, die dir Freude und Spass bereiten…ich weiss, Zeit ist bei vielen Mangelware und an Ausreden fehlt es auch nicht…wenn es dir jedoch wichtig ist, dann findest du eine Lösung und einen Weg – und sei es ‚nur‘ mehrmals täglich ein paar Mal bewusst tief ein- und auszuatmen, morgens mit Dankbarkeit in den Tag zu starten oder beim Kochen deine Lieblingsmusik zu hören.
Sein statt warten
Da gibt es diese Situationen, die uns kurzfristig Geduld abverlangen…du stehst in der Schlange vor der Kasse, sitzt hungrig im Restaurant und möchtest gern bestellen, stehst im Stau und hast einen wichtigen Termin, der Zug oder dein Freund hat Verspätung, du wartest sehnsüchtig auf einen Anruf, sitzt im Wartezimmer des Arztes usw. davon gibt es im Alltag reichlich Beispiele.
Was all diese Situationen gemeinsam haben, ist, dass sie im Wechselspiel mit deiner Umgebung stehen, dass das Aussen ein Teil davon ist. Es ist die gegenwärtige Realität, die du im Moment nicht verändern kannst, gegen die es sich nicht zu kämpfen lohnt…denn der Kampf verstärkt und nährt deine Ungeduld, deinen Ärger, deine Wut und Frustration. Ja, du wünschst es dir anders, aber du kannst die Situation nicht beeinflussen. Was du aber sehr wohl beeinflussen kannst, ist, wie du darüber denkst und darauf reagierst. Du hast die Wahl, die Entscheidung, ob du dich darüber ärgern möchtest, oder die Gegebenheiten akzeptierst und dich in Gelassenheit übst.
Warum nicht die Gelegenheit nutzen, um ein paar Mal tief durchzuatmen und einfach zu ‚sein‘, anstatt zu ‚warten‘? Mal wieder in dich hineinhorchen und dich fragen, wie es dir eigentlich geht…deine Füsse, deinen Körper wahrnehmen…oder deine Umgebung und die Menschen um dich herum mit wachem Blick beobachten…oder gar in ein Gespräch kommen…dich über deinen geplanten Urlaub freuen….ein Hörbuch hören, etwas lesen oder dich bei einem Freund melden, was du eigentlich schon lange tun wolltest…Warten muss nicht unbedingt verschwendete Zeit sein – oft ergeben sich gerade in diesen Situationen die ungewöhnlichsten, wunderbarsten Augenblicke. Tu dir einen Gefallen und nimm es mit Humor und Gelassenheit – ein Geschenk an dein psychisches und physisches Wohlbefinden.
Ausserdem lohnt es sich, in der Tagesstruktur genug Pufferzeit einzuplanen, damit ersparst du dir eine Menge Stress, Druck und Ärger.
“Geduld ist nicht die Fähigkeit zu warten, sondern beim Warten gut gelaunt zu bleiben.”
Autor unbekannt
Der Geduldsmarathon – Aufgeben ist keine Option
Dann gibt es diese längerfristigen Projekte, die unsere Geduld auf die Probe stellen. Du möchtest einen Marathon laufen, abnehmen oder die Ernährung umstellen, eine neue Sprache oder ein Musikinstrument lernen, dich von einer schweren Krankheit erholen, ein Unternehmen aufbauen oder ein Karriereziel erreichen, eine Gewohnheit oder Verhaltensweise verändern…diese Art von Geduld hängt auch mit Zielstrebigkeit und Ausdauer zusammen. Wir verzichten auf die kurzfristige Belohnung zugunsten einer grösseren Belohnung bei der Erreichung eines längerfristigen Ziels. Doch was hilft uns, durchzuhalten und geduldig auf unser Ziel hinzuarbeiten?
Sei realistisch – Entwicklung braucht Zeit
Es ist noch kein Meister vom Himmel gefallen…und sosehr wir uns das manchmal wünschen: Erfolg kommt nicht über Nacht. Erfolg – egal ob im beruflichen, privaten oder sozialen Kontext – fordert stetiges daran arbeiten, üben, immer wieder versuchen….und auch immer wieder Fehler machen und hinfallen. Gib der Entwicklung, der Veränderung Zeit…es ist ein Prozess, der viele kleine Schritte – und oft auch Rückschritte – beinhaltet. Manchmal lohnt es sich, die Strategie zu überprüfen oder sich mehr Wissen anzueignen…doch oft darfst du ‚einfach‘ ausdauernden Einsatz und viel Geduld investieren, bevor sich der Erfolg einstellt….die meisten Menschen geben leider zu früh auf…sie setzen Samen, hegen und pflegen, und werfen dann – oft kurz vor der Ernte – die Flinte ins Korn.
Lege Teilziele fest – Erfolgserlebnisse kreieren
Wenn du deinen Weg in Schritte aufteilst und immer wieder überprüfst, wo du stehst und welche Fortschritte und Veränderungen zu bereits erzielt hast, fällt es dir leichter, die Erfolge zu sehen, sie zu würdigen und dich daran zu erfreuen. Und es hilft dir, die Motivation aufrechtzuhalten und dranzubleiben.
Der Weg ist das Ziel – Leben im Jetzt
Es ist sinnvoll und wichtig, sich Ziele zu setzen…jedoch sehr schade, wenn du zu sehr auf das Ziel fixiert bist, und dadurch den gegenwärtigen Moment verpasst. Geniess den Weg, die Wunder am Wegrand, gehe bewusst und achtsam jeden Schritt und sei dankbar für alles, was jetzt da ist…all die Geschenke und die wunderbaren Augenblicke, die ein Teil deines Weges sind – wo auch immer dieser hinführen mag. Denn das Leben findet ausschliesslich und immer im Jetzt statt – verpasse nicht das kleine Glück während du auf das grosse wartest.
Vertrauen – der richtige Zeitpunkt
Der ‚richtige‘ Zeitpunkt ist oft nicht der, den wir uns wünschen oder mit unserem Verstand festlegen – das Leben hat einen eigenen Plan. Gib stets dein bestes, habe Geduld und vertraue darauf, dass alles zum für dich absolut richtigen Zeitpunkt und in der genau richtigen Art und Weise geschieht und stattfindet – auch wenn du es dir anders vorgestellt hast…vertraue, dass alles Sinn macht, auch wenn du diesen im gegenwärtigen Moment nicht immer verstehst. Bestimmt hast du auch schon unangenehme oder sogar schmerzhafte und schlimme Situationen erlebt, die sich erst im Nachhinein als Geschenk herausgestellt haben. Vertrauen hilft dir, geduldig und gelassen zu sein und die Gegenwart so anzunehmen und zu akzeptieren, wie sie sich im diesem Moment zeigt. Und…sei bereit, auch mal dein Ziel zu verändern oder loszulassen, falls das Leben dich woanders hinträgt.
Humor und Leichtigkeit – das Leben als Spiel
Ich glaube, dass wir oft Situationen viel zu ernst nehmen. Warum nicht mal über uns selber lachen, wenn wir mal wieder etwas (noch) nicht hinbekommen oder zum wiederholten Male in die gleiche Falle getappt sind? Ich versuche, das Leben immer wieder als Spiel zu betrachten, dessen Sinn vielleicht einfach das Spielen und Spass haben ist und nicht verbissen etwas zu erreichen oder zu erschaffen.
Nachsicht und Mitgefühl – das Leben ist Bewegung
Manchmal will es mir einfach nicht gelingen, zu akzeptieren, dass etwas (noch mehr) Zeit braucht…manchmal schaffe ich es nicht, zu vertrauen, dass es schon richtig läuft oder Misserfolge mit Leichtigkeit und Humor zu nehmen…manchmal will ich nicht einsehen, dass etwas immer noch nicht so klappt, wie ich das mir wünsche…manchmal nervt und frustriert es mich einfach, dass ich etwas immer noch nicht kann oder der Durchbruch so lange auf sich warten lässt….Selbstzweifel steigen auf, ich verurteile und kritisiere mich.
Dann übe ich mich in Nachsicht und Selbst-Mitgefühl. Ich versuche, freundlich, liebevoll und verständnisvoll mit mir zu sein – wie es eine gute Freundin tun würde. Ja, manchmal ist es eben schwierig, geht die Geduld oder die Kraft aus, tut es weh, scheint es sinnlos…das ist in Ordnung. Ich akzeptiere, dass dies genauso zum Leben gehört wie Höhenflüge, Mutausbrüche und Geduldssträhnen. Und…die nächste Freudenattacke kommt bestimmt – hab Geduld!
Folgendes Gedicht von Rainer Maria Rilke berührt und inspiriert mich immer wieder – ich möchte es gerne mit dir teilen.
Über die Geduld
Man muss den Dingen
die eigene, stille,
ungestörte Entwicklung lassen,
die tief von innen kommt,
und von nichts gedrängt
oder beschleunigt werden kann;
alles ist austragen – und
dann gebären…
Reifen wie der Baum, der seine Säfte nicht drängt
Und getrost in den Stürmen
des Frühlings steht,
ohne Angst,
dass dahinter kein Sommer
kommen könnte.
Er kommt doch!
Aber er kommt nur zu den Geduldigen,
die da sind, als ob die Ewigkeit vor ihnen läge,
so sorglos still und weit…
Man muss Geduld haben,
gegen das Ungelöste im Herzen,
und versuchen, die Fragen selbst lieb zu haben,
wie verschlossene Stuben,
und wie Bücher, die in einer sehr fremden Sprache
geschrieben sind.
Es handelt sich darum, alles zu leben.
Wenn man die Fragen lebt, lebt man vielleicht allmählich,
ohne es zu merken,
eines fremden Tages
in die Antwort hinein.